Der verfassungsrechtlich garantierte „Anspruch auf rechtliches Gehör“ nach Art. 103 Abs. 1 GG ist u. a. verletzt, wenn eine Gerichtsentscheidung – ohne entsprechenden Hinweis nach § 139 ZPO (wohl spätestens in der letzten mündlichen Verhandlung) – auf einen Gesichtspunkt gestützt wird, mit dem auch ein kundiger und gewissenhafter Prozessbeteiligter unter Berücksichtigung der Vielzahl von vertretbaren Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Prozessverlauf nicht zu rechnen brauchte. Zum Prozessverlauf gehören sowohl erteilte wie auch unterbliebene Hinweise. Die gerichtlichen Hinweispflichten dienen der Vermeidung von Überraschungsentscheidungen und konkretisieren den verfassungsrechtlichen Anspruch einer Prozesspartei auf rechtliches Gehör.
Eine Verletzung der einfachgesetzlichen prozessualen Hinweispflichten stellt allerdings nicht stets zugleich einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG dar. Dies ist nur anzunehmen, wenn das Gericht bei der Auslegung oder Anwendung der einfachrechtlichen Vorschriften die Bedeutung und Tragweite des Grundrechts auf rechtliches Gehör verkennt.
Danach bedarf es bei der Verletzung gerichtlicher Hinweispflichten im Einzelfall der Prüfung, ob dadurch zugleich das unabdingbare Maß verfassungsrechtlich verbürgten Anspruchs auf rechtliches Gehör verkürzt worden ist, vgl. BVerfG 5.04.2012, Az. 2 BvR 2126/11 (zu einer Amtsgerichtsentscheidung nach § 495a ZPO ohne beantragte mündliche Verhandlung über einen „Telekom-Vertrag“). Kann ein Prozessbeteiligter damit rechnen, dass er auf einen entscheidungserheblichen Punkt hingewiesen wird, ist der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, wenn ein entsprechender Hinweis unterbleibt (BAG v. 31.03.2021, Az. 5 AZN 926/20 zu Ausschlussfristen und Bestimmtheit des Klageantrags – Zahlungsforderungen).
Am 16.08.2023 hatte das BAG – im Rahmen einer Nichtzulassungsbeschwerde nach § 72a ArbGG – darüber zu entscheiden, ob das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg dann, wenn es seine Entscheidung im März 2023 maßgeblich auf eine Vereinssatzung stützt, die keine der beiden Parteien im Verfahren vorgelegt hatte, das gebotene rechtliche Gehör verletzt, wenn es die Parteien zuvor nicht auf diese Satzung hinweist. Das Bundesarbeitsgericht in Erfurt hat dies bejaht, Az. 4 AZN 273/23. Soweit das LAG BW seine Entscheidung unerwartet auf die Vereinssatzung stützte, hätte es den Parteien zuvor fairerweise Gelegenheit zur Stellungnahme geben müssen.
Selbst dann, wenn es sich bei der Satzung um eine offenkundige Tatsache i.S.d. § 291 ZPO handeln sollte, die keines Beweises bedurfte, musste der Kläger hier nicht damit rechnen, dass diese zur Begründung zur Klageabweisung herangezogen würde, vgl. BGH v. 7.05.2020, Az. IX ZB 84/19 (zu allgemein zugänglichen Angaben im Internet wegen Eröffnung eines Insolvenzverfahrens).
Für das BAG genügte hier der nachvollziehbare Hinweis des Klägers in seiner Beschwerde, dass das LAG BW bei Beachtung seiner prozessualen Hinweispflicht nach § 139 ZPO möglicherweise anders entschieden hätte. Der Kläger hatte dargelegt, er hätte – für den Fall, dass das LAG BW ihn auf die Vereinssatzung hingewiesen hätte – schlicht auf einen nachfolgenden Abschnitt der Satzung verwiesen, die seine Sichtweise stützte.
Das BAG hob das rechtswidrige Urteil des LAG BW vom 17.03.2023 auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Entscheidung an das LAG BW zurück. Das Verfahren landete beim gleichen Senat.
ebenso schon BGH v. 6.05.1993, Az. 1 ZR 84/91:
Zahlenangaben in statistischen Jahrbüchern, die als offenkundige Tatsachen im Urteil verwertet werden sollen, hat das Gericht zwecks ausreichender Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs 1 GG) regelmäßig zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung zu machen, wenn die Parteien sich nicht auf sie berufen haben und auch nicht damit rechnen müssen, daß die Zahlenangaben der Beurteilung zugrunde gelegt werden.